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Simplicissimus. Jahrgang 16 (1912), Heft 45, Seite 799
(Bild 1) „Wie fletscht und knurrt das dumme Biest, (Bild 2) Wenn Michel seine Ruh genießt! (Bild 3) Derweil hat sich der Bär gestärkt, (Bild 4) Bis es das dumme Luder merkt.“
Olaf Gulbransson stieß 1903 zum Simplicissimus und zählte bald zu dessen populärsten Mitarbeitern. Seine mit geschmeidig-weichem Strich ausgeführten Federzeichnungen verzichten auf übermäßige Verzerrungen und lassen auf amüsante Weise den Charakter und das Selbstbild der Dargestellten erkennen. Viele seiner Karikaturen entstanden auf Anregung des mit ihm befreundeten und ebenfalls für den Simplicissimus arbeitenden Schriftstellers Ludwig Thoma, der vermutlich auch den Text für die Bildergeschichte Englands Politik lieferte.
Thomas Mann: „Meine Beziehungen zu dem außerordentlichem Witzblatt entbehrten also nicht der inneren Legitimität. Während ich bei seiner Redaktion behilflich war, blieb ich direkter Mitarbeiter. Mehrere meiner kurzen Novellen… die ich nicht in meine gesammelte Schriften aufgenommen habe, erschienen dort zuerst, sogar ein Weihnachtsgedicht.“
Beim Simplicissimus hatte Thomas Mann u.a. mt Ludwig Thoma und Olaf Gulbransson zu tun.
Während des Krieges wird sich dann Thomas Mann in seinem Werk „Betrachtungen eines Unpolitischen“ u.a. mit dieser Thematik auseinandersetzen.
Gulbransson hat Thomas Manns Bruder Heinrich karikiert.
Zum Zeitpunkt der Publikation war das politische Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent bereits stark ins Wanken geraten. Verschärft wurde die Situation durch die zunehmende Abkühlung der deutsch-britischen Beziehungen, die unter den expansiven Machtansprüchen des deutschen Kaiserreichs (Flottenbauprogramm und Ausbau des Kolonialreiches) und den oft unbedachten außenpolitischen Äußerungen Wilhelm II (Daily Telegraph-Affäre) besonders litten. Gleichzeitig schwelten Krisenherde auf dem Balkan (separatistische Bewegungen innerhalb des Osmanischen Reichs) und in Fernost (Zerfall des chinesischen Kaiserreichs), die für zusätzlichen Zündstoff unter den europäischen Großmächten sorgten.
In seiner vierteiligen Bildgeschichte Englands Politik thematisiert Gulbransson das deutsch-britische Zerwürfnis vor dem Hintergrund russischer Expansionsbestrebungen. In Form eines Bären unterwirft und verschlingt das Zarenreich nacheinander einen Türken und Chinesen, bis von diesen nur noch ein Feez und ein Haarzopf übrigbleiben. Von all dem bekommen die auf sich konzentrierten Engländer und Deutschen jedoch bis zuletzt nichts mit. Während der deutsche Michel stoisch an seiner Pfeife zieht, kläfft ihn die britische Dogge mit zunehmender Aggressivität scheinbar grundlos an, anstatt Russland Einhalt zu gebieten.
Auch wenn aus der historischen Rückschau dieser Interpretation nur bedingt beigepflichtet werden kann, zeigt die Bildergeschichte, dass die europäischen Großmächte weitaus weniger Einfluss auf die Entwicklung der Weltpolitik hatten, als sie dachten. Zwei Jahre später sollte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges dies auf dramatische Weise bestätigen.“